500 Kilo Hawaii – Der Song «Over the Rainbow» eroberte die Welt | NZZ (2024)

Israel Kamakawiwo’ole sang das Lied überall in die Hitparade. Sein Leben spiegelt die Geschichte Hawaiis, der Inseln unter dem Regenbogen.

Florian Leu

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500 Kilo Hawaii – Der Song «Over the Rainbow» eroberte die Welt | NZZ (1)

Dieser Artikel ist Teil der Serie «30 Jahre Folio, 30 Geschichten» und stammt aus dem Archiv.

Bevor er starb, wog er fast eine halbe Tonne. Wenn die Ärzte ihn wiegen wollten, luden sie ihn in einen Lieferwagen, fuhren zum Markt und stellten ihn auf die Fischwaage. Er lag in einem Bett, das die Pfleger für ihn gebaut hatten, double king size. Freunde brachten ihm Schokoriegel und Mari­huana, die letzten Drogen, von denen er nicht loskam. Meist standen zwei Dutzend Besucher in seinem Zimmer mit Sicht auf die Wolkenkratzer von Honolulu und auf die Hügel im Hintergrund. Am Bett sass auch seine Frau, die im Spital als Technikerin arbeitete, zuständig für die Herzmaschinen. Israel Kamakawiwo’ole, der feisse Sänger mit der zarten Stimme, dessen bestes Lied auf der ganzen Welt ein Hit wurde und den die Fans in Hawaii wie einen Heiligen verehrten, starb vor vierzehn Jahren an Herzversagen, Nierenversagen, Lungenversagen. In einem Nachruf hiess es: «He was too big for life.»

Als Freunde die Urne öffneten und die Asche ins Meer streuten, standen zehntausend Leute am Strand. Verwandte sprangen ins Wasser und tauchten der Asche nach. Auf der Strasse von Pearl Harbor nach Makaha, einem Dorf an der Westküste Oahus, entstand eine Schlange von Lastwagen, die sich über Kilometer erstreckte. Die Fahrer drückten ihre Hupen, die Bergflanken warfen das Echo aufs Meer. Die Fahnen wehten auf halbmast. Vor der Einäscherung war Kamakawiwo’ole im Capitol aufgebahrt worden, als dritter in der Geschichte Hawaiis, nach einem Senator und einem Gouverneur.

Er war 38 geworden und hatte 19 Alben aufgenommen. Meist sang er auf hawaiianisch und spielte die Ukulele dazu, wie es ihm sein Onkel beigebracht hatte. Zu Ruhm kam Israel mit einem Medley, dessen Songs amerikanischer kaum sein konnten: «Over the Rainbow» und «What a Wonderful World». Wenn man heute durch Honolulu geht, hört man das Lied ein Dutzend Mal an einem Tag. Mal lullt Kamakawiwo’ole die Kunden im Einkaufszentrum ein, die vor dem Apple Store stehen und warten, bis ein Computerfreak die Glastür aufmacht. Mal zittern seine Akkorde über die Köpfe von Restaurantgästen, während sie ihre «Blazing Big Mouth Bites» essen. Mal klingt das Lied auf die Einkaufsmeile am Meer hinaus, wo Obdachlose verlaust und zerlumpt am Boden liegen und wo schöne Japanerinnen mit Prada-Täschchen und schöne Japaner mit Edelholzsandalen vorbeischlendern.

Israel Kamakawiwo’ole kam 1959 zur Welt. Drei Monate später wurde Hawaii zum fünfzigsten Teilstaat der USA, knapp 200 Jahre nachdem James Cook auf die Inseln ge­stos­sen und wenig später mit einem Speer im Bauch gestorben war. Die Eltern des Sängers kamen aus Niihau, der abgelegensten Insel des Archipels, wo die Leute noch heute Hawaiianisch sprechen und seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter der Fuchtel einer Familie von Fundamentalchristen leben. Lange durfte niemand die Insel betreten, heute bieten die Besitzer Safaris an. Wer sich eine kauft, darf Schweine und Schafe schiessen und sich die Beute von Eingeborenen ausweiden und einpacken lassen. Lunch, Snacks und Softdrinks sind inbegriffen.

Mit sechs Jahren begann Israel, Musik zu machen. Er schwänzte die Schule, klaute eine Ukulele und zog mit Freunden durch seine Nachbarschaft in Honolulu, die damals aus Holzhütten bestand. Heute stehen hier Einfami­lienhäuser hinter Zäunen und Schildern, auf denen ent­weder «Private Property» zu lesen ist oder «Alert Alarm, Protecting Hawaii since 1962». Damals lebte auch Barack Obama in Honolulu. Er besuchte eine Privatschule und unterhielt sich mit Freunden über die Unmöglichkeit, dass es je ein Schwarzer ins Oval Office schafft.

Der Sohn des Haifischgottes

Mit elf spielte Kamakawiwo’ole an der Seite seines Onkels auf den Schiffen, die von Pearl Harbor aus für Rundfahrten in See stachen, vorbei an Honolulu mit seinen Lichtern. In den 1970ern sah die Skyline jeden Monat anders aus, immer mehr Hotels schossen in die Höhe. Heute übernachten hier acht Millionen Touristen im Jahr und shoppen tagsüber in Kaufhäusern der Superlative, fliegen im Helikopter über Vulkankrater, gehen Schlittschuh laufen oder feuern in Schiesskellern eine Magnum ab, angelockt von Slogans wie: «Dirty Harry, make my day!»

Als Vierzehnjähriger zog Israel zur Familie des Vaters, die in Makaha lebte, eine Autostunde von der Stadt entfernt. Hier leben mehr Hawaiianer als sonstwo auf Oahu, der Insel Hawaiis, die am dichtesten besiedelt ist. Touristen kommen selten hierher. Nirgends ist die Arbeitslosigkeit höher. Am Strand liegen Junkies, zerrüttet von allen möglichen Drogen. Wenn man das Dorf verlässt und eine Stunde durch die Landschaft mit dem hellgrünen Gras und den knorrigen Bäumchen wandert, kommt man zu einer Höhle.

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Geht es nach den Mythen, lebte hier einst der Sohn des Haifischgottes. Er sass in seinem feuchten Daheim und wartete auf Beute. Mit seinem Gesang lockte er Leute an, verwandelte sich in einen Hai zurück und frass sie auf. Geht man von hier aus den Berg hoch, steht man bald vor einem Tempel, der dem Kriegsgott Ku gewidmet war und der vor kurzem wiederaufgebaut worden ist. Wenn Ku wütend war, spie er Maden. Wenn er müde war, ging er in die Ferien. Verständlich: Die Insel ist von solch surrealer Schönheit, dass man selbst als Gott hin und wieder Ferien machen muss. Manchmal ist es fast zu viel: das Dunkelgrün der Bäume, das Hellrosa der Wolken, das Tiefblau des Himmels, und über all das spannt sich auch noch fast jeden Tag ein Regenbogen.

Die schönste Schrotthalde der Welt

Mit sechzehn ging Israel nicht mehr zur Schule, stattdessen spielte er mit seinem Bruder in einer Band, den Makaha Sons of Niihau. Sie traten an Geburtstagen auf, an Hochzeiten und Abschlussfeiern. Einmal bekam Israel als Gage einen Salatteller und eine Schüssel mit Fleischbällchen. Als ein Mädchen das Fleisch anrührte, schlug er es. Er war schon damals ein Fettwanst und die Völlerei eine Sucht, die auch der Bruder und die Schwester hatten.

Wenn er auftrat, spielte Israel auf einer kaputten Ukulele, die er mit Kaugummi zusammenklebte. Der Musiker Del Beazley sah die Band oft. Er sagt: «Wenn Israel den Mund aufmachte, wurde es still. Jeder grosse Sänger hat etwas Besonderes. Bei Israel war es die Kopfstimme. Sie liess die Leute sofort innehalten.» Manchmal spielten sie dreimal an einem Abend, verlangten aber nichts dafür. Oft lebten sie am Strand und assen die Fische, die über Nacht ins Netz gegangen waren. Die Gegend um Makaha glich einem Campingplatz. Wer sich das Leben in Honolulu nicht leisten konnte, schlug hier ein Zelt auf. Neulich haben die ­Behörden verboten, Netze über Nacht auszuwerfen. Sie ­haben die Lager abgebrochen und die Leute in Heime ­gebracht. Heute gibt es nur noch eine Zeltsiedlung, «The Bushes», die auch bald verschwinden soll. Traurig wäre das nicht. Der Landstrich wirkt wie die schönste Schrotthalde der Welt: vorne das Meer, hinten der Müll. Wenn man von hier aus eine Stunde weiterwandert, links das Meer mit seinem türkisfarbenen Wasser, rechts die Hügel mit ihren zündroten Felsen, gelangt man an die westlichste Spitze der Insel. Es ist der Ort, wo der Legende nach die Seelen der Toten ins Jenseits sprangen.

Später, als Kamakawiwo’ole zwanzig war, zog er zurück nach Honolulu. Seine Band wurde zu einer Art Beatles à la Südsee. Sie spielten auf allen Inseln, brachten in siebzehn Jahren elf Alben heraus, sangen ihre Lieder auch auf dem Festland, immer in Hawaiihemden. Je älter Israel wurde, desto politischer wurde er. Früher überliess er es seinem Bruder Skippy, die Ansagen zu machen. Er selber verschwand hinter der Bühne und rauchte einen Joint, bevor er wieder auftauchte. Skippy war immer pünktlich, Israel besass nie eine Uhr.

Nachdem Skippy an Überfettung gestorben war, übernahm Israel die Ansagen und begann, seine Lieder mit politischen Anspielungen zu spicken. In einem Song verurteilte er das Militär, das die Insel Kahoolawe als Übungsgelände benutzte. In einem anderen Lied fragte er, was die Ahnen dächten, wenn sie sähen, wie ihre Nachfahren leben, ohne Land, ohne Sprache, im Gefängnis, in den Drogen. 2009, ein Dutzend Jahre nach Kama­kawiwo’oles Tod, feierte Hawaii seine fünfzig Jahre als ­fünfzigster Gliedstaat der USA, aber es wurde nicht nur Feuerwerk in den Himmel geschossen. An den Häusern prangten die Plakate der Leute, die sich um ihre Heimat gebracht fühlten: «We are not Americans!» Das «We» auf diesen Transparenten sind wenige. Zwei Generationen nach Cooks Landung war einer von zehn Ureinwohnern übriggeblieben. Etwa eine halbe Million hatten die Euro­päer und die Amerikaner nicht überlebt, sie wurden sterilisiert von Missionaren und ihren Helfern, sie wurden dahingerafft von Masern und Pocken.

Die Makaha Sons of Niihau spielten meist in Hotels und Parks, und oft traten sie am Waikiki-Strand auf. Neben dem Betonbau der Polizei liegen hier auch die Gesteinsbrocken, die Medizinmänner der Legende nach zurückliessen. Sie waren in ihren Kähnen übers Meer gekommen. Sie heilten die Leute in den Bergen hinter Honolulu. Dann setzten sie sich in ihre Boote und verschwanden.

Als die Makaha Sons am Strand spielten, gewann eine Bewegung an Fahrt: die hawaiianische Renaissance. Die Ureinwohner beriefen sich auf ihre Tänze, ihre Gesänge, ihre Sprache. Der Hula, der seit der Besetzung von den Amerikanern verboten war, wurde wieder getanzt. Tontechniker reisten mit ihren Aufnahmegeräten in die entlegensten Dörfer und nahmen die Lieder der Alten auf, bevor sie starben und mit ihnen die Gesänge.

In der Schule lernten die Kinder wieder Hawaiianisch, nachdem die Sprache lange verboten und fast ausgerottet worden war. So wären auch die Redensarten verloren gegangen, in denen sich das Leben zwischen Wogen und Vulkanen abgelagert hat: «Ua kaa niniau i ka wili wai.» Das sagen Ha­waiianer, wenn sie verliebt sind. Übersetzung: Von Wasserwirbeln umhergeworfen werden, bis einem schwindelt. Oder: «Akahi hoi i kuu ono i ka uhu kaalo i kuu maka.» Das sagen sie, wenn sie sich nach jemandem sehnen, den sie lange nicht gesehen haben. Eigentlich heisst es: Ich wünschte mir, an meinem Gesicht würde ein Uhu vorbeischwimmen – ein kleiner Fisch, der selten ist und köstlich sein soll. Schliesslich: «Aia no i ka mea e mele ana.» Das rufen sie, wenn sie wollen, dass jemand selber denke. Wörtlich: Der Sänger soll sein Lied selbst aussuchen. Kama­kawiwo’ole nahm seine Songs oft in der Nacht auf und ohne die Band im Rücken. Eine Aufnahme von 1988 wurde zu seiner wichtigsten. Aber er merkte es gar nicht.

Er sang das Lied nur ein Mal

Der Produzent Milan Bertosa erinnert sich oft daran. Es war drei Uhr morgens. Er hatte gerade einen Tiefpunkt hinter sich: Er hatte eine Gruppe von Frauen aufgenommen, die einen Bikiniwettbewerb gewonnen hatten und meinten, sie müssten singen. Bertosa räumte das Studio auf, als das Telefon klingelte. Kamakawiwo’ole, schon damals eine Berühmtheit, war am Apparat. Bertosa war gerade aus Chicago eingewandert, er kannte ihn nicht. Dass der Kerl einen Song einspielen wollte, jetzt gleich, war Bertosa egal. Er war müde und wollte heim. Doch die Stimme des Sängers war so sanft, dass Bertosa nachgab. Nach einer Viertelstunde stand ein Hüne vor der Tür, «wie ein Haus mit einer Ukulele». Bertosa sah, dass die Stühle alle zu klein waren für einen wie Israel. Im Gang fand er einen Stuhl aus Eisen, stellte ihn in die Mitte des Studios und setzte sich die Kopfhörer auf. Israel, bekifft und besoffen, rückte ganz nah ans Mikrophon heran. Er sang «Over the Rainbow» ein einziges Mal, dann legte er die Ukulele weg. Bertosa sass hinter seinem Mischpult, wach wie selten. Er machte eine Kopie und wollte Israel eine Kassette geben, aber dem war das nicht so wichtig. Er sagte, er habe nur sehen wollen, ob er das Lied hinkriege. Dann ging er in seinen Riesenstrandlatschen nach Hause.

Seine Adresse war die Amana Street: Heute befindet sich hier das Restaurant eines Koreaners. Zerfetzte Matratzen liegen am Strassenrand. Zerbeulte Einkaufswagen stehen herum. Immer wieder geht ein Tourist die Strasse hoch und macht ein Foto vom grauen Hochhaus mit den kleinen Fenstern, in dem «Iz» am Ende gewohnt hat.

Bertosa behielt das Band. Hin und wieder spielte er es einer Freundin vor, einmal zeigte er es seinen Verwandten, sonst lag die Aufnahme im Keller. Israel vergass, dass er das Lied gesungen hatte. Er spielte es nicht wieder. Fünf Jahre später, als er sein Soloalbum «Facing Future» aufnahm, holte es der Produzent Jon de Mello aus Bertosas Archiv und machte daraus das vierzehnte Stück der Platte. In Hawaii wurde es zur Hymne, sonst kannten es nur wenige. Zwei Jahre nach Kamakawiwo’oles Tod 1997 kam es in einem Spot von eToys vor, einer Firma, die Spielzeug im Internet verkaufte. Die Kunden überrannten die Seite. Nach einer Weile stellten die Programmierer ein Banner dazu für jene, die nur den Namen des Sängers wissen wollten. Seither ist der Song in hundert Werbespots gebraucht worden.

«Over the Rainbow» hat Kama­ka­wiwo’ole und seiner Familie das Leben gerettet. Nach einer Karriere von zwanzig Jahren und einem Dutzend Alben, die in die Charts gelangt waren, lebte er von der Wohlfahrt. Er trug ein Hawaiihemd, eine Anfertigung nur für ihn, für die meisten gross genug, um darin zu campieren. Er war nur in der Nacht wach, sniffte und kiffte, soff und frass. Er umgab sich mit Freunden, die ihn durch Honolulu fuhren, seinen Stahlstuhl für ihn herumtrugen, ihn wuschen und kleideten. Wenn er im Studio arbeitete, mussten es die Tontechniker Tag für Tag räumen, weil er immer seine Hamburgerschachteln liegen liess. Israel war eine Parodie der Stammesfürsten, der Alii, die vor Jahrhunderten ihre Macht mit ihrem Umfang unterstrichen hatten. Heute liegt der Anteil Fettleibiger unter Hawaiianern weit über dem US-Durchschnitt.

Kamakawiwo’ole schaffte, was in Hawaii vor ihm keiner zustande gebracht hatte. Das Album mit «Over the Rainbow» ging eine Million Mal über den Ladentisch. Bis heute hat das Label «Mountain Apple» fünf Millionen Alben von «Iz» abgesetzt. Marlene Kamakawiwo’ole, die Witwe, hat mittlerweile fünf Enkel und sagt, sie könne dank den Tan­tièmen alle an die Universität schicken, wenn sie das einmal wollten.

Sie erzählt das in einem Turm aus Glas, der mitten in Honolulu steht und im Licht funkelt. Hier hat der Produzent Jon de Mello sein Tonstudio. Es ist der Arbeitsplatz eines Millionärs, der mit «Iz» reich geworden ist. Wenn es um Hawaiis Musik geht, hat de Mello fast ein Monopol. Oft erntet er Kritik, weil er vor allem Israels Nachlass verwaltet und immer wieder Konzertmitschnitte und Best-of-Kollektionen auf den Markt wirft, sich aber weniger um den Nachwuchs kümmert, als viele es gern hätten.

Marlene sitzt tief in einer Couch, eine schöne und bescheidene Frau, im Hintergrund blinken die Lämpchen des Mischpults. In Erinnerung an ihren Mann bricht sie ständig in Tränen aus. De Mello sitzt mit einem sanften Lächeln daneben und reicht ihr ein Kleenex nach dem andern.

Plingpling und Schwerelosigkeit

Weshalb hat Israels Version von «Over the Rainbow» so viel Erfolg, dass die Teenager, die bei Amerikas Superstar-Sendungen mitmachen, seine Version vortragen und nicht das Original von Judy Garland? Es ist die Stimme. Der Sender National Public Radio hat sie zu einer von fünfzig Stimmen des 20. Jahrhunderts gewählt. Ihr Zauber ist, dass sie immer voll klingt, selbst wenn Israel in den höchsten Lagen singt. Auch wenn die Stücke, die er geschrieben hat, am Kitsch vorbeischrammen: die Stimme rettet sie.

Vielleicht hat das Lied die Leute auch deshalb in den Bann gezogen, weil Kamakawiwo’ole es auf den Kern eingeschmolzen hat. Mit seiner Ukulele spielt er drei Akkorde, und es sind nicht einmal die, welche die Komposition vorsieht. Den Text singt er falsch, zu Beginn und am Ende dampft er ihn auf eine Kaskade von Ohs und Uhs ein, die Jon de Mello so gut gefallen haben, dass er sie als «Hawaiian Delight» schützen liess.

Vielleicht liegt der Reiz des Liedes auch darin: Hier singt einer, der nach den Regeln des Showgeschäfts, das die Schönen und Schlanken liebt, gar nicht auftreten dürfte.

Vielleicht ist es die Botschaft des Liedes: Dass man nicht glücklich sein kann, wo man ist. Dass man den Verdacht nicht los wird, das Glück sei anderswo.

Vielleicht ist es auch die Ukulele, deren Klang nichts als Unbeschwertheit verheisst, Schwerelosigkeit fast. Seit Israels Hit hat das Instrument ein Comeback erlebt. War ihr Pling­pling noch in den 1950ern oft zu hören, vor allem in Filmen, verschwand es bald für Jahrzehnte aus den Gehörgängen. Aber als «Over the Rainbow» in all den Werbeclips die Zuschauer umspülte, hat das Instrumentlein einen Boom erlebt. Eddie Vedder, der mit der Grungeband Pearl Jam bekannt wurde, hat gerade eine Platte herausgebracht mit Liedern, die er auf der «Uke» spielte und mit denen er versuchte, dem Instrument seine Düsternis zu entringen, was ihm aber misslang. Wer an der Ukulele zupft, kann fast nicht anders, als Fröhlichkeit zu verbreiten. Der Gitarrenbastard, den Matrosen vor zweihundert Jahren aus Portugal nach Hawaii gebracht haben, lässt sich keine Trauer entlocken.

Elvis revisited

Tot ist einer erst, wenn sich keiner mehr an ihn erinnert. In den Köpfen lebt Israel Kamakawiwo’ole mehr denn je. Neben seiner Masslosigkeit und dem Wegwerfenden an seiner Art ist auch sein Nachleben eine Art hawaiianische Elvisversion. Wen man auch fragt, alle haben eine Geschichte.

Louis «Moon» Kauakahi, der mit Israel in der Band spielte, spricht wie fast alle in der Gegenwartsform über ihn: «Es kommt vor, dass er während eines Konzerts einschläft, mitten im Lied. Manchmal legt er sich auch unters Klavier und döst ein bisschen. Er ist einer, der Witz und Esprit hat und die Leute immer zum Lachen bringt. Wenn er nicht gerade schläft. Das ist Israel.»

Jon de Mello, der Israels Soloarbeiten herausbrachte, sagt über ihn: «Er ruft mich jeden Morgen um fünf Uhr an und erzählt mir einen dreckigen Witz. Oft kommt er auch einfach zu mir herüber, das Studio liegt ja gleich um die Ecke. Da sitzen wir dann, und Israel spricht während Stunden von seinem Leben. Ich nehme immer alles auf.»

Marlene Kamakawiwo’ole, die sich schon als Teenager in ihn verliebte, beschreibt seine Konzerte: «Wenn es regnet, rennen alle sofort unters Dach. Israel bleibt sitzen und singt einfach weiter. Die Kinder haben Angst vor ihm, weil er ein Gigant ist. Aber sie verlieren ihre Furcht schnell, wenn er ihnen eine Unterschrift aufs T-Shirt macht. Es gibt ein schönes Bild ab, wenn die Kleinen auf Israel herumklettern. Er ist ja ein richtiger Berg.»

Gaylord Holomalia, der ihn oft als Musiker begleitete, sagt über seinen Freund: «Er ist witzig und böse, aber auf die süsseste und zarteste Art, die du dir denken kannst. Er spricht immer viel zwischen den Liedern. Wenn er in Honolulu auftritt, sagt er meist: Es ist schön, dass ihr alle hier seid. Aber vergesst bitte nicht, dann auch wieder zu gehen, heim aufs Festland. Das ist Israel.»

Del Beazley, Freund und Compagnon, erinnert sich an die Beisetzung und sagt: «Früher, im alten Hawaii, haben die Leute tagelang geweint und geklagt, wenn der König gestorben ist. So war es auch bei Israel. Die Leute sind gekommen und haben sich von einem ganz gewöhnlichen Hawaiianer verabschiedet. Aber ich sag’s dir: Israel hätte gelacht.»

Florian Leu ist Volontär beim NZZ Folio.

500 Kilo Hawaii – Der Song «Over the Rainbow» eroberte die Welt | NZZ (2)

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom Juni 2011 zum Thema «Over the Rainbow».

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